Verkehr und andere Katastrophen

Der einzige Zeuge oder wenn Hilfsbereitschaft und Dankbarkeit exotisch wirken

Written by hansbahnhof

Irgendwann am frühen Abend im späten Winter. Es regnet Bindfäden und Essen im Ruhrgebiet wird dadurch nicht wirklich attraktiver. Dunkle Wolken werden vom Wind über einen schwärzlichen Abendhimmel gepeitscht. Schemenhaft huscht der Feierabendverkehr über die nassen Straßen des Potts. Feierabendzeit.

Irgendwann am frühen Abend im späten Winter. Es regnet Bindfäden und Essen im Ruhrgebiet wird dadurch nicht wirklich attraktiver. Dunkle Wolken werden vom Wind über einen schwärzlichen Abendhimmel gepeitscht. Schemenhaft huscht der Feierabendverkehr über die nassen Straßen des Potts. Feierabendzeit. Kaminzeit. Der Prokurist muss nach Hause und ich bin der Chauffeur im Dienst-Audi. Zeit zum Quatschen und bald gibt es Abendessen bei der Frau.

Der Unfall

Ich fahre langsam auf einen großen ampelgesteuerten Kreisverkehr zu. Hier treffen vier zweispurige Straßen aufeinander. Ein wenig unübersichtlich ist das schon. Vor Allem, wenn man wie jetzt kaum noch die  Straßenmarkierungen erkennt. Einige Meter neben uns schleicht ein Skoda Richtung Ampelrot als plötzlich ein wildgewordener Mini von links kommt. Er schneidet den Skoda und will vor ihm noch schnell nach rechts abbiegen. Noch bevor es knallt, merke ich, dass das schiefgehen muss. Mit einem dumpfen „Poff“ hebt der Skoda den überholenden Mini hinten an und dreht ihn halb um die eigene Achse. Ein Unfall. Und rund um uns herum geschätzte fünfzehn Zeugen auf der Heimfahrt von der Arbeit.

Der Zeuge

Der Prokurist hat nix gesehen, weil er in meine Richtung guckte. Ich schaue mich um. Nach der Schrecksekunde machen sich Essens Autofahrer daran, in weitem Bogen um das Geschehen herumzufahren. Alle. Und langsam, damit es nicht auffällt. Hinter mir hupt ein Kreisverkehrnutzer: „Fahr jetzt“, heißt das, „hier gibt es nix zu sehen“, heißt das auch. Ich schaue den Prokuristen an: „Drückst Du denen mal meine Karte in die Hand. Ich habe gesehen, wer Schuld war.“ Der Prokurist schaut zweifelnd Richtung Himmel, zieht die Jacke über den Kopf und sprintet Richtung Unfall. Ich bringe den Wagen in Sicherheit.

Die Polizei

Kurz darauf erscheint die Polizei. Ich schwinge mich ebenfalls aus dem Wagen und werde zum Hergang befragt, während der Winterregen langsam in den Stoff meines Anzuges eindringt. Der erste Polizist: „Vielen Dank, dass Sie als Zeuge hiergeblieben sind. Das machen ja heute nicht mehr viele!“. Polizist zwei: „Und wer sind Sie? – Ein Zeuge? Ach, herzlichen Dank – die meisten Leute bleiben ja heute nicht mehr stehen, wenn es einen Unfall gegeben hat. Die haben alle keine Zeit mehr.“ Ich verteile Visitenkarten, gebe meine Eindrücke zum Besten und kann nach zwanzig Minuten leicht schlotternd den Prokuristen einladen und nach Hause fahren. „Jeden Tag eine gute Tat“, grinst der Prokurist. Ich grinse zurück: „Lange nicht mehr so viel Frischluft bekommen.“

Die Sache ist damit beendet. Oder.

Der Brief

Zwei Tage später bekomme ich Post von Herrn B.. Herr B. ist der Skodafahrer und bedankt sich per Brief bei mir als Zeugen. Denn das sei nicht selbstverständlich, dass man zeugt – heutzutage. Nicht? Stimmt. Auch mein Gefühl. Nicht nur nach diesem unwichtigen Unfall ist mein Eindruck, dass in der Gesellschaft nach dem „ICH“ ganz lange nichts kommt. Im Straßenverkehr und anderswo. Und wenn Hilfsbereitschaft Überraschung hervorruft und Dankbarkeit gegenüber einem Zeugen per Brief ebenfalls, dann lässt mich das irgendwie nachdenklich zurück.

Dem Brief ist ein Kinogutschein beigelegt. Für mein Lieblingskino. Konnte Herr B. nicht wissen – aber herzlichen Dank dafür! Ich werde ihn nutzen und einen Film gucken, in dem es um die Zukunft geht. Eine Zukunft, in der die Computer die Macht ergreifen und die Menschheit von ferngesteuerten Raumschiffen erledigt wird bis einer kommt, der in letzter Sekunde die Menschheit rettet. Ich werde dann am Ende mal schauen, ob sich einer dafür bedankt. Ich bin da gern noch mal Zeuge.

 

 

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hansbahnhof

Unheilbarer Petrolhead seit 1966. Hat begonnen mit Vespa-Motorrollern und dann irgendwann mit Porsche weitergemacht.

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